Noch einmal leben, bitte.

 

Saskia wurde meine Klientin, als sie eigentlich schon aufgegeben hatte. Sie kam auf Empfehlung eines Freundes und klammerte sich ängstlich an ein Leben, das immer kleiner wurde. Ich durfte ihr den Mut geben, mehr zu wollen.

Noch einmal leben, bitte.

Manchmal bedeutet „den Krebs bewältigen“ nicht, den Krebs zu besiegen. Und manchmal brauchen wir die mentale Stärke, die mein Coaching vermittelt, nicht nur für die Chemotherapie, sondern auch, um die Kontrolle über unser Schicksal zurückzufordern. Genau das hat Saskia getan. Und dies ist ihre Geschichte.

Das erste Treffen

Es ist ein kalter Februarmorgen, als Saskia das erste Mal vor meiner Tür steht. Ein Freund hat ihr empfohlen, mit mir Kontakt aufzunehmen, sagt sie, und hält sich am Türrahmen fest. Wir gehen in den Behandlungsraum. Sie bewegt sich langsam, vorsichtig. Und sie erzählt von ihrer düsteren Prognose. Die Ärzte geben ihr nicht mehr lange, und sie macht sich Sorgen um ihren Mann und ihre Zwillingssöhne. Wie werden die drei es verkraften, wenn sie nicht mehr da ist?

„Ich möchte einfach nur noch so lange leben wie möglich“, sagt sie.
„Was für ein scheiß Ziel.“ sage ich.

Sie starrt mich entgeistert an. Ich kenne das schwarze Loch, in dem sie gerade sitzt. Den dunklen Gedankenstrudel, der einen tiefer und tiefer zieht, bis man sich selbst die Luft zum Atmen nimmt. Ich habe ihn bei meinem Vater viele Male erlebt, und ich weiß, dass es keine Hoffnung geben kann, solange wir den Strudel nicht stoppen. Also frage ich sie:

„Wem willst du erlauben, über dein Leben zu bestimmen? Den Ärzten? Der Chemo? Warum bestimmst du nicht selbst, wieviel Zeit du noch auf dieser Welt verbringen möchtest?“

Saskia schweigt einen Moment lang. Sie sieht traurig aus, kraftlos. Doch dann verändern sich ihre Züge, und in ihrem rechten Mundwinkel erscheint ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln.

„Ich will meine Jungs noch 18 werden sehen“, sagt sie dann.
„Super!“, sage ich. „Jetzt haben wir ein tolles Ziel.“

 

Neubeginn

Ich spüre, dass Saskia meinen vollen Einsatz braucht. Nicht nur, weil sie so schwer krank ist. Sondern vor allem, weil die negativen Glaubenssätze so viel Zeit gehabt haben, sich in ihrem Inneren festzusetzen. So viele Untersuchungen mit schlechtem Ergebnis. So viele Ärzte, die mit sanfter Stimme düstere Prognosen stellten. Und so viel Angst und Unsicherheit in der eigenen Familie. Saskia trägt all das mit sich herum. Kein Wunder, dass sie keine Kraft zum Kämpfen hat.

Wir beginnen unsere Arbeit, indem wir alles verabschieden, was Saskias Genesung im Weg steht: Ängste, Zweifel, und die Meinungen anderer. Was zählt, ist das, was Saskia selbst will. Wir schaffen einen Ort der inneren Ruhe, an dem sie in Sicherheit ist und Kraft tanken kann. Die mutlose, gebrochene Frau tritt zunehmend in den Hintergrund. Zum Vorschein kommt eine Saskia, die sich mit neuem Mut für die Chemotherapie entscheidet.

Wir beginnen damit, die einzelnen Phasen der Chemotherapie mental vorzubereiten. Saskia weiß, was sie erwartet. Und viel wichtiger: Sie weiß, von welchen inneren Kraftreserven sie zehren kann, und welche Gedanken und glücklichen Erinnerungen sie durch die schweren Stunden tragen, die vor ihr liegen.

Der zweite Zyklus

Als ich Saskia das nächste Mal sehe, ist es bereits Sommer. Saskia trägt ein grünes Kleid, sie ist gebräunt und lächelt mich an. Sie hat die Chemotherapie und die anschließende Reha gut überstanden. Ob sie meine Hilfe überhaupt noch braucht, frage ich. Sie nickt ernst. Ja, im Herbst steht die zweite Chemo an, und sie möchte sich darauf so gut wie möglich vorbereiten.

Unsere Arbeit geht also weiter: Saskia befreit sich von den dunklen Erinnerungen der ersten Therapie und sammelt Kraft für den zweiten Zyklus. Wir arbeiten mit mentalen Techniken und Hypnose, um den Nebenwirkungen vorzubeugen, und einen optimalen Verlauf der Therapie zu unterstützen.

Die andere Seite

 

Als ich Saskia das nächste Mal wiedersehe, ist es Herbst. Dieses Mal komme ich auf Bitten ihres Mannes ins Krankenhaus. Leider hat die zweite Chemotherapie keinen guten Verlauf genommen, und Saskia hadert mit einer weiteren düsteren Prognose. Als ich in der Klinik eintreffe, ist sie ganz aufgelöst, da ihr bereits die nächste Untersuchung bevorsteht. Sie hat Angst vor dem Ergebnis, vor niedergeschlagenen Augen und neuen Ärzten, die die gleiche Diagnose stellen.

Ich begleite sie auf ihrem Weg ins MRT. Die Wartezeit in der Radiologie nutze ich, um Saskia zurück in ihre innere Mitte zu führen. Sie kann ihre Angst loslassen, sich entspannen. Ich kann zwar nicht beeinflussen, mit welchem Ergebnis Saskia aus der Untersuchung kommt, aber ich kann dafür sorgen, dass es ihr in diesem Augenblick besser geht.

Als ich sie ein paar Wochen später wieder in der Klinik besuche, weiß ich noch nicht, dass es unser letztes Treffen sein wird.

„Hallo, Saskia“ sage ich, und schaue sie an. Ihr Gesicht um die lächelnden Augen herum ist kleiner geworden.
„Bist du bereit, wollen wir loslegen?“ Sie nickt, und bittet ihren Mann und ihre Mutter, das Zimmer zu verlassen.
„Ich möchte diese Zeit bitte ganz für mich haben“, sagt sie.

Ich setze mich zu Saskia ans Bett und wir beginnen mit unserer Übung. Am Anfang spüre ich, wie angestrengt sie ist. Ihre Atmung ist flach und stockend. Doch nach einer Weile werden ihre Atemzüge leichter. Saskia kommt zur Ruhe. Ich drücke ihre Hand und empfinde eine tiefe Dankbarkeit, dass ich diese Arbeit tun, und in diesem Augenblick bei ihr sein darf.

Abschied

Kurze Zeit nach unserer letzten Begegnung verliert Saskia das Bewusstsein. Im ersten Moment kann ich das nicht akzeptieren. Sie wollte doch den 18. Geburtstag ihrer Söhne erleben! Ich versuche, sie auf energetischer Ebene zu erreichen, ihr noch einmal Kraft zufließen zu lassen. Doch ich spüre, dass Saskia zu gehen bereit ist.

Am Morgen der Trauerfeier bin ich beschämt. Ich hätte Saskia so gerne in ein Leben ohne Krebs begleitet, wäre so gerne Teil ihrer Genesungsgeschichte gewesen. Doch Saskias Familie macht mir an diesem Tag ein wundervolles Geschenk: Sie erzählen mir, wie gut Saskia die mentale Arbeit getan hat, und wie stark es ihren Alltag beeinflusst hat, dass sie gerade in den letzten Monaten wieder in der Lage war, Glück und Hoffnung zuzulassen. Sie bedanken sich bei mir für meine Arbeit.

Mit Saskias Mann verbindet mich heute eine Freundschaft. Er ist Teil des Kreativ-Teams hinter Mit Körper und Geist den Krebs bewältigen, weil er gesehen hat, was das Mentaltraining für Betroffene leisten kann.

 

Was von Saskia bleibt

Saskia habe ich die Erkenntnis zu verdanken, dass es manchmal keine Rolle spielt, wieviel Zeit uns noch in Stunden und Minuten bleibt. Selbst zehn geschenkte Jahre geraten in Vergessenheit, wenn nichts von ihnen bleibt. Unsere gemeinsame Arbeit hat Saskia neun Monate geschenkt. Aber nicht neun Monate, in denen sie sich schwach ans Leben klammerte, sondern neun Monate, in denen sie das Leben umarmte.

Neun Monate, die sie ihre Söhne heranwachsen sah. Neun Monate, in denen sie sonnenbadete, Zeit mit Freunden und Familie verbrachte, und sich selbst die Aufmerksamkeit schenkte, die sie brauchte.

Und es ist diese Saskia, die ihre Familie in Erinnerung behält. Nicht die verzweifelte, gebrochene Frau, die eines Februarmorgens vor meiner Tür stand. Sondern die starke Saskia, die ihr Leben noch einmal selbst in die Hand genommen hat. Und die erst ging, als sie dafür bereit war.