Von Rapsfeldern und Löwenherz

 

Es gibt Menschen, die den Krebs als Schicksal annehmen. Und es gibt Menschen, die ihn als Herausforderung betrachten. Als Fehdehandschuh, den das Leben dir hinwirft, und sagt: 

Nun! Wollen wir?

Mein Vater hat die Herausforderung angenommen. Jedes Mal aufs Neue. Beim letzten Mal hat seine Kraft nicht mehr ausgereicht. Trotzdem ist dies nicht die Geschichte vom Tod meines Vaters. Dies ist die Geschichte von den 23 Jahren dazwischen, in denen er nicht nur Krebspatient, sondern vor allem Vater, Großvater und begeisterter Harley-Fahrer war.

1997

„Es ist Krebs.“ Als ich diese Worte das erste Mal hörte, ging es nicht um meine eigene Diagnose. Es war mein Vater, der nach einem Routinetermin beim Urologen zusammengesunken am Küchentisch saß, und sein vermeintliches Todesurteil verkündete. Nierenzellenkarzinom, weit fortgeschritten, in der Regel rezidiv. Es ist erstaunlich, wie schnell wir uns an Fachtermini gewöhnen, die uns ein paar Wochen vorher noch völlig fremd gewesen wären.

Die Aussichten waren nicht gut. Trotzdem gab es für meinen Vater nur eine einzige Option: Nach vorne blicken, kämpfen. Ich glaube, wir hatten den Schock der Diagnose noch gar nicht richtig verdaut, da saß ich auch schon an seinem Krankenhausbett und sah zu, wie er aus der Narkose erwachte: Mein Vater hatte sich zehn weitere Jahre erkämpft. Der Preis? Die rechte Niere und der benachbarte Lymphknoten.

2007

Zehn Jahre nach der ersten Diagnose kehrte der Krebs zurück: Eine der Kontrolluntersuchungen, an die sich mein Vater akribisch hielt, hatte Metastasen in der Lunge gezeigt. Bösartig, aber operabel. Zu diesem Zeitpunkt trat Dr. Detlev Branscheid, ein begnadeter Lungenspezialist, in unser Leben. Wenige Wochen nach dieser zweiten großen Operation stieg mein Vater wieder auf seine Harley und rauschte an den leuchtend gelben Rapsfeldern unserer holsteinischen Heimat vorbei.

Man sagt, Menschen, die Lungenkrebs bekommen, haben sich selbst die Luft zum Atmen genommen. Sie haben ihr Leben nicht genossen, den kleinen Dingen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Ich kann mich aber gut daran erinnern, dass in dieser Zeit die größte Veränderung in meinem Vater vorging. Es war die Zeit, in der wir unsere mentale Arbeit begannen. Ich leitete meinen Vater dazu an, seine Ängste anzunehmen, damit er sie loslassen konnte. So schufen wir gemeinsam einen Raum der Ruhe, wo Platz war, um durchzuatmen, um Kraft zu schöpfen, und um jene Augenblicke und Begegnungen zuzulassen, mit denen das Leben ihn beschenken wollte:

Bunte Sommertage mit seinen Enkelkindern. Die untergehende Sonne vor dem stahlblauen Horizont der Ostsee. Lange Gespräche über Gott und die Welt. Und ungezählte Stunden, die er träumend unter einer mächtigen Eiche in einem seiner geliebten Rapsfelder verbrachte. Ich selbst erkannte in dieser Zeit etwas, was mich bis heute antreibt: Krebs und Glück schließen einander nicht aus. Man darf nur nicht vergessen, auch das Glück zuzulassen.

2011

Mit begnadeten Ärzten ist es so eine Sache: Man ist dankbar, dass es sie gibt, aber man hofft, dass man sie nie wiedersehen muss. Der Chirurg, der im April 2010 neue Metastasen in der Lunge und an der Bauchspeicheldrüse entfernen sollte, hatte die Komplexität des Eingriffs unterschätzt, und mein Vater die OP nur knapp überlebt. So kam es, dass wir zu Dr. Branscheid zurückkehrten. Den Krebs an der Bauchspeicheldrüse ließ mein Vater im Pankreaszentrum in Heidelberg behandeln.

Während die Ärzte eine Serie von schweren Operationen planten, konzentrierte ich mich darauf, meinen Vater mental und körperlich auf diese Eingriffe vorzubereiten. Wir nutzten die Energiearbeit, um seine Kraftreserven aufzufüllen, und arbeiteten intensiv daran, negative Glaubenssätze zu lösen. Mein Vater hatte den Krebs von Anfang an als seinen Feind betrachtet – und dieses Bild nutzten wir in unserer mentalen Arbeit.

In den kurzen Ruhepausen zwischen den Eingriffen half ich meinem Vater dabei, seinen Fokus immer wieder auf die Genesung zu lenken, auf ein Leben ohne Krebs. Wir verbannten die Krankheit mental aus seinem Körper – und tatsächlich kehrte der Krebs viele Jahre nicht mehr zurück, nachdem die Ärzte die Operationen abgeschlossen hatten.

2017

„Was kommt, das kommt.“ Nach dem Pankreaszentrum in Heidelberg und der Odyssee schwerer Operationen hatte mein Vater beschlossen, keine weiteren Kontrolluntersuchungen mehr wahrzunehmen. Er traf diese Entscheidung aber nicht, weil er aufgegeben hatte. Er traf sie, weil er seine Zeit nicht mehr in Krankenhäusern verbringen und seine Energie nicht mit Bangen vor den Ergebnissen aufzehren wollte. Stattdessen tat er das, was ihm schon immer Freude gemacht hatte: Er ließ sich den holsteinischen Wind um die Nase wehen, und fuhr noch mehr als 100.000 km auf seiner geliebten Harley.

Die Liebe zum Motorradfahren war es schließlich auch, die die Entscheidung für seine letzte große Operation brachte: Als mein Vater im Sommer 2018 sein altes Luftgewehr für meinen Sohn herrichtete, brach sein Arm. Die Diagnose: Knochenkrebs. Die Ärzte rieten zu einer vorsichtigen, aber langwierigen Behandlung, um den Krebs an weiterer Streuung zu hindern.

Mein Vater entschied sich jedoch für die risikoreiche, aber schnelle Operation. Seine Begründung: „Sonst ist ja die Motorradsaison vorbei. Das geht nicht.“ Nach dem Eingriff folgte noch eine Strahlentherapie. Aber dann stieg mein Vater wieder auf seine Harley.

November 2020

23 Jahre nach der ersten Diagnose beendete mein Vater seinen Kampf. Im MRT, das drei neue Hirntumore zeigte, verlor er das Bewusstsein. Innerhalb von zwei Wochen konnte er sich nicht mehr selbst versorgen.

Auch in diesen letzten Tagen und Wochen war ich an seiner Seite. 23 Jahre lang hatten wir mental gearbeitet, damit er leben konnte. Jetzt halfen ihm die gleichen Techniken dabei, Abschied von seinem Leben zu nehmen. Aufgrund von Corona war es uns als Familie leider nur eingeschränkt möglich, ihn auf diesem letzten Stück Weg zu begleiten. Doch wie es seine Art war, traf er auch hier noch selbst die Entscheidung: Mein Vater, der immer den Tod im Krankenhaus gefürchtet hatte, verstarb am 18.11.2020. Nicht im Krankenhaus, sondern im Hospiz. Nicht 1997, wie die Ärzte prognostiziert hatten, sondern 2020.

Ich weiß nicht, ob mein Vater sich vor seiner Krebserkrankung die Luft zum Leben genommen hat. Aber ich weiß, dass er nach seiner Diagnose eine ganz neue Form der Lebensfreude kennenlernte. Eine, die nicht von Moment zu Moment hetzt. Oder darauf wartet, zugelassen zu werden. Sondern eine, die dich sanft am Arm nimmt, sich ins Gras plumpsen lässt, und sagt: Hier ist es schön, lass uns eine Weile bleiben.

Das ist es, was ich Betroffenen in meinem Coaching-Programm vermitteln möchte: Niemand weiß, wie dein Leben ab jetzt aussehen wird. Aber wenn du es nicht selbst in die Hand nimmst, überlässt du die Entscheidung anderen. Mein Vater hat seinen Weg bis zum letzten Augenblick selbst bestimmt – und diese Stärke ist in jedem von uns. Wir müssen nur den Mut haben, sie anzunehmen.